A. Kappeler: Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern

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Titel
Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern. Die Ukraine im Horizont des Westens vom 16. bis 19. Jahrhundert


Autor(en)
Kappeler, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nataliia Sinkevych, Historisches Seminar, Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Seit Beginn ihrer nationalen Geschichtsschreibung ist das Thema „westliche“ Ukrainebilder vom höchsten Interesse für ukrainische Historiker:innen.1 Allerdings versuchten sie dabei oft, die eng miteinander verflochtene Geschichte der Ukraine und Polens (beziehungsweise Russlands) künstlich zu trennen. Zugleich übertrieben sie den Grad des westlichen Interesses an der kosakischen (ukrainischen) Staatlichkeit.2 Die westeuropäischen Autoren der frühen Neuzeit schenkten dem Fürstentum Moskovien viel mehr Aufmerksamkeit als Ruthenien – wie die heutigen ukrainischen und weißrussischen Länder mit dem Zentrum in Kiew und das Territorium der Kiewer kirchlichen Metropolie damals genannt wurden. Dies lag an ihren Reisen, die häufiger nach Moskau führten, der politischen Bedeutung Moskaus – auch weil Ruthenien „nur“ Teil Polen-Litauens war – sowie an der Tatsache, dass Moskau im Vergleich zu Ruthenien als „exotischer" und schwieriger zu erreichen galt.

Manche Reisende verschlug es aber dennoch in diesen Raum. Von ihren vom 16. bis 19. Jahrhundert in Westeuropa veröffentlichten Berichten über die ukrainischen Länder, Kosaken, Religion und politische Ereignisse handelt das vorliegende Buch von Andreas Kappeler.

Seit mehr als einhundert Jahren nutzen Historiker:innen das Begriffspaar „Ost“ und „West“ als zwei Hauptfaktoren in der Beschreibung der historischen Entwicklung der Ukraine. In seinen früheren Werken stellte Andreas Kappeler die These auf, dass das Selbstverständnis der Ukrainer als Opfer Russlands und damit als nicht dem despotischen und undemokratischen Osten zugehörig zu einem zentralen Bestandteil des ukrainischen nationalen Mythos wurde. Darüber hinaus erläuterte Kappeler, dass mit dem Begriff „Osten“ in der Ukraine lange Zeit Konstantinopel als Zentrum der Orthodoxie sowie asiatische Nomaden assoziiert wurden. Im 18. Jahrhundert seien die beiden Assoziationen verschmolzen und der „Osten“ verband sich mit dem orthodoxen und gleichzeitig despotischen Moskau.3

In seinem neuen Buch betrachtet Kappeler die Ukraine hingegen als einen Teil Osteuropas, der im „Westen“ lange Zeit „durch eine polnische Brille“ rezipiert wurde. Ruthenien und seine Bewohner wurden erst Ende des 16. Jahrhunderts für die Westeuropäer zu einem Thema von besonderem Interesse, was vor allem auf die Kosaken zurückzuführen ist, die immer wieder in den Militärplänen der europäischen Monarchien auftauchten. Kappeler zeigt, dass die Kosaken damit zu wichtigen militärischen und politischen Akteuren und damit besonders für französische und italienische Autoren interessant wurden. Besonders großer Popularität erfreute sich dabei die „Description des contrees du royaume de Pologne“ vom französischen Ingenieur Guillaume le Vasseur de Beauplan (1595–1685), der mehrere Jahre in Ruthenien verbrachte. Mit diesem Werk bekam die Ukraine „einen festen Platz auf der kognitiven Landkarte Europa“ (S. 290).

Die Kriege, die in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in den ruthenischen Gebieten stattfanden, stärkten das Interesse im Westen. Besonders wichtig wurden die Werke von Maiolino Bisaccioni (1582–1663), Pierre Chevalier und Alberto Vimina (1603–1667), die Kappeler zusammen mit Texten über Kosakentruppen in westeuropäischen Flugblättern und Zeitungen analysiert. Ebenfalls stieg das westeuropäische Interesse an Ruthenien zur Zeit des Großen Nordischen Kriegs, als der Hetman der Saporoger Kosaken, Iwan Mazepa, sich gegen Peter den Großen in Richtung Schweden wandte. Daraus resultierten zahlreiche Diskussionen und Portraitierungen des kosakischen Hetmans sowohl als Verräter als auch als Patriot. Hier analysiert Kappeler unter anderem die kurzen Beschreibungen der ukrainischen Gebiete in politischen und geografischen Enzyklopädien und allgemeinen Geschichtsbüchern der deutschsprachigen Länder, Italien, Frankreich, Großbritannien und Nordamerika. Er zeigt dabei, dass sich das Interesse an der Ukraine im 18. Jahrhundert räumlich wandelt, da es in Deutschland zunimmt und in Italien gleichzeitig abnimmt.

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich der Fokus in den nunmehr zahlreich erscheinenden Reiseberichten, die aus historischem Grund nicht mehr die Kosaken, sondern vor allem die Bauern, ihre Volksdichtung und ihr Leben beschreiben. Letztendlich war es die westliche romantische Literatur, die den Wandel der Darstellung der Ukraine zum titelgebenden „Land der Bauern“ machte.

Die sechs chronologisch geordneten Kapitel des Buches basieren auf einer breiten Auswahl unterschiedlicher Werke: Reiseberichte, Landkarten, Landesbeschreibungen, Periodika, Enzyklopädien, Gesamtdarstellungen der ukrainischen Geschichte, Belletristik und Kunst. Obwohl auch wichtige Texte von Kappeler nicht beachtet werden (zum Beispiel von Paul Mucante), werden die Haupttendenzen im Diskurs über die Ukraine und ihr Wandel deutlich sichtbar. Der Autor beachtet nicht nur Originalauflagen, sondern auch spätere Übersetzungen in weitere westeuropäische Sprachen, was eine wichtige Perspektive der Geschichte von Ideen- und Wissenstransfers eröffnet.

Allerdings hätte der intertextuelle Kontext der Werke stärkere Beachtung verdient. So ist die vom Autor genannte Geschichte über 3-malige Taufe der Rus im Buch des italienischen Gesandten Alberto Vimina (S. 107) eine Überlieferung von den Werken katholischer Autoren (vor allem Piotr Skarga und Leon Kreuza), die eindeutig zu einem polemischen Zweck geschrieben wurde. Darüber hinaus beachtet Kappeler zu wenig die konfessionellen, intellektuellen und politischen Sympathien der Autoren, die zum großen Teil die Wahl von bestimmten Autoritäten, Narrativen und Topoi bestimmen.

Kappelers Behauptung, dass die Autoren der frühen Neuzeit kein großes Interesse an der ukrainischen Religion gehabt hätten (S. 49), ist ebenfalls nicht ganz richtig. Die baltischen Protestanten hatten häufigen Kontakt mit der orthodoxen Kirche sowohl in Moskau als auch in Polen-Litauen. Einer dieser Protestanten, Paul Oderborn (1555–1604), ein evangelischer Pfarrer in Vilnius, schrieb eine weitere Abhandlung mit dem Titel „De russorum religione“ (1582), in der er die orthodoxe Kirche in Moskau und Ruthenien als Ganzes untersuchte. Darüber hinaus beschrieb der bekannte lutherischer Theologe und Schriftsteller Johannes Herbinius (1626–1679) in dem Werk „Religiosæ Kijovienses Cryptæ“ (1675) das orthodoxe Klosterleben sowie die Ursprünge der Kiewer Kirche und lieferte einige interessante Fakten aus der ruthenischen Kirchengeschichte. Eine Analyse dieser Quellen, die auf die Kiewer kirchliche Tradition verweisen, würde auch für die Praxis der interkonfessionellen Verständigung und den intellektuellen Austausch zwischen verschiedenen Konfessionen wichtige Einsichten bringen.

Diese kritischen Bemerkungen sollen auf keinen Fall den positiven Eindruck mindern, den das Buch auf die Rezensentin gemacht hat. Der gute Stil und die verständliche Sprache machen es zu einer perfekten Lektüre sowohl für Wissenschaftler:innen als auch für ein breiteres Auditorium. Der Autor überzeugt mit seiner These, dass die Ukraine einen festen Platz auf der mentalen Landkarte des Westeuropas vom 16. bis 19. Jahrhundert hatte und sowohl ihr Name als auch die Geschichte der Ukraine in Westeuropa gut bekannt war. Besonders heute ist es für Ukrainer:innen bedeutsam, in der Zeit des Krieges auf der Karte Europas erblickt zu werden. Noch wichtiger ist das Buch allerdings für den deutschsprachigen Raum, wo die frühneuzeitliche Ukraine teilweise bis heute als „Terra incognita“ gilt.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Volodymyr Sičyns’kyj, Čužynci pro Ukrainu, Augsburg 1946; Il’ko Borščak, Ukrajina v literaturi Zachidnoji Jevropy, Kyjiw 2000; Dmytro Vyrs’kyj, Okolyci Renesansu. ričpospolyts’ka istoriografija Ukrajiny (XVI–ser.XVII st.), Kyjiw 2007.
2 Kritisch dagegen: Vadym Adadurov, Konstrujuvannja Il’kom Borščakom mifologičnogo obrzu spryjnjattja Ukrajiny u Franciji u XVIII–XIX st., abo pro meži svobody ta vidpovidal’nosti doslidnyka v interpretaciji istoryčnych džerel, in: Ukrajina na istoriografičnij mapi mižvojennoji Jevropy. Materialy mižnarodnoji naukovoji konferenciji (München, 1.–3. Juli 2012), Kyjiw 2014, S. 109–131.
3 Andreas Kappeler, Die Ukraine zwischen West und Ost. Überlegungen eines Historikers, in: Juliane Besters-Dilger u.a. (Hrsg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West, Bern 2000, S. 9–15.